Giacomo Puccini und Ferdinand Tönnies

Giacomo Puccini (1858-1924) und Ferdinand Tönnies (1855-1936) – Der gemeinsame Gang zur modernen Musiksoziologie [1]

von Georg Gerry Tremmel und Dr. Norbert Zander [2]

Der Blick auf den Titel dieses Artikels mag vielleicht bei einem (noch nicht) musikalisch bewanderten socius bzw. soziologisch bewanderten musicus kritisches Unbehagen auslösen, da sich beiden sofort die Frage aufdrängt, inwieweit Ferdinand Tönnies überhaupt die Musikwissenschaft und umgekehrt Giacomo Puccini die Soziologie bearbeitet hätte. Jedenfalls um 1884 (erste Oper von Puccini) bzw. 1887 (erstes Buch von Tönnies) ahnte keiner der beiden, was die Soziologie erst später werden sollte. Hier weisen wir auf folgendes:

In extremen Fällen würde jede einzelne Wissenschaft für sich exklusive Ansprüche erheben – eine Beobachtung, die ganz und gar dem Terminus ‚Musiksoziologie’ widerspräche, was eine Verletzung der Inklusion zur Folge hätte. Tatsache jedoch ist, dass die im Titel erstgenannte Persönlichkeit, also Giacomo Puccini, den meisten Sozialsystem-Kundigen nur eingeschränkt bekannt ist und im Kontext der Soziologie augenscheinlich in den Weiten der Gesellschaftssphären weder visuell fassbar noch akustisch wahrnehmbar zu sein scheint; das betrifft in ähnlicher Weise auch die Musikwissenschaftler, die sich schon lange in den Abgründen der (traditionell akademisierten) Musikanalyse begeben haben – oder sagen wir besser sich versteckt halten, und somit die Tragweite der visionären und zeitlosen Schrift von Ferdinand Tönnies (>>Gemeinschaft und Gesellschaft<<) gar nicht wahrnehmen konnten oder wollten. Es fehlt ergo eine musik-soziologische Interaktion bzw. Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Wissenschaften, von denen die eine Seite (Musikwissenschaft) die Musik bereits als ‚ihre’ Gemeinschaft definieren, dabei aber die Gesellschaft außen vor lassen; die andere Seite (Soziologie) ignoriert(e) und überhört(e) nicht selten die Musik. Beide sind somit noch zu keiner erfolgreichen Begegnung (und im weiter gedachten Sinne zu keiner Versöhnung) gekommen, obwohl beide Wissenschaften sich gegenseitig bedingen: die Soziologie braucht die Musik, um Emotionen, die lediglich und primär innerhalb einer jeweiligen Gemeinschaft praktiziert werden, nach außen hin, sprich in die große Gesellschaft, transportieren zu können. Erst durch diese Transformation ist es möglich, dass Symptome, an denen die Gesellschaft möglicherweise erkrankt, erkannt werden. Die Musik benötigt die Soziologie, um ihre ‚abstrakte Kunst’ im gesellschaftlichen Kontext fassbar werden zu lassen. Dies kann nur geschehen, wenn eine Entkodifizierung des ‚Abstrakten’ [3] stattfindet, die ein Zugang zur Musik ermöglicht.

Es scheint, dass dieses Kommunikationsdefizit zwischen Musik und Soziologie beispielsweise ausgehend vom 19. bis ins heutige 21. Jahrhundert immer noch präsent ist. Unser Artikel knüpft eben an dieser Beobachtung an, bei der exemplarisch an den Persönlichkeiten Giacomo Puccini und Ferdinand Tönnies gezeigt werden wird, warum es bis heute zu keiner versöhnlichen Begegnung zwischen den oben genannten Wissenschaften gekommen ist. Lange Zeit wurde schnell auf Konvergenz und Individualität gesetzt, ohne zu bedenken, dass eigentlich das Komplementäre nicht so unwichtig für die Interdisziplinarität ist. Der nun folgende Artikel möchte ein Zeichen setzen dafür, dass eine Begegnung zweier Wissenschaften nur über die Form einer interaktiven Kommunikation tatsächlich möglich ist.

Soweit zur Intention dieses Artikels. Nun also zum Thema ‚Musiksoziologie’. Zunächst einmal sei die kollidierte Wortzusammensetzung ‚Musik-Soziologie’ näher zu betrachten: es ist doch – interessanterweise – zu hinterfragen, warum in der chronologischen Reihenfolge erst die Musik und dann die Soziologie (als Affixanhang) im Wortkonstrukt in Erscheinung tritt; eine Frage, die uns zur zweiten Überlegung führt: Inwieweit beeinflussen sich die beiden Teildisziplinen gegenseitig und inwiefern ergänzen sie sich? Die mögliche, aber absurde Variation: ein Zeitalter der Soziologie folgt dem Zeitalter der Musik, schieben wir in die „rational choice“-Schublade und schließen die einfach. Diese Gedankengänge sollen uns nun auf dem modernen Weg zur Musiksoziologie begleiten. Fügen wir aber zunächst ein paar Tatsachen an.

Der ältere Tönnies (1855 – 1936) schrieb den ersten Entwurf von »Gemeinschaft und Gesellschaft« 1880/81, 1887 erschien dann die langjährige Ausarbeitung als Erstwerk und mit der zweiten Auflage 1912 wurde deutlich, dass das Buch ein Hauptwerk der Soziologie ist, das es insgesamt zu acht Auflagen brachte, für die letzte Auflage schrieb Tönnies 1935 das Vorwort.

Der jüngere Puccini (1858 – 1924) veröffentlichte seine erste Oper 1884 und mit seiner dritten Oper 1893 wurde er berühmt, wobei Puccinis Oper >Madama Butterfly< von 1904 ihm Weltruhm einbrachte und er verstarb, bevor er seine zwölfte Oper 1924 vollenden konnte.

Eigentlich ist es nicht verwunderlich, dass sich die beiden Weltbürger nicht getroffen haben, denn der jüngere wohnte südlich in der Toskana, der ältere lebte nördlich und später um Kiel herum. Der ältere beschäftigte sich ausführlich mit Hobbes, traf mit diesem auf Galilei und war u.a. geprägt vom Dichter Storm, der jüngere war beeindruckt von Verdi, Wagner und Verismus. Der jüngere wurde sehr reich, der ältere blieb arm. Wie reich aber Tönnies wirklich war, das wollen wir anklingen lassen, indem wir mit der Theorie von Tönnies einmal eine Oper von Puccini erläutern. Wir zeigen also anhand von Puccinis erster Oper >Le Villi<, wie mit der Theorie von Tönnies die Musiksoziologie zu neuen Ufern aufbrechen kann.

Verschweigen wir in diesem Zusammenhang nicht, dass bisher gedacht wurde, ein solches Unterfangen könnte doch nur mit Simmel, Weber und/oder Adorno gelingen, aber dies waren selbstverständlich nur Wunschträume. Simmel konnte 1881 mit seiner Arbeit über Musik Puccini nicht einbeziehen, weil dessen erste Oper erst 1884 aufgeführt wurde. Weber musste Puccini nicht hören, weshalb er auch nichts über Puccini zu sagen wusste. Adorno wollte Puccini nicht verstehen, deshalb sind auch dessen Äußerungen über Puccini eher negativ.

Selbstverständlich ist uns nicht entgangen, dass Ferdinand Tönnies bisher überhaupt nicht mit der Musiksoziologie in Kontakt gebracht wurde, weil ja anscheinend seine philosophische Ausrichtung dazu wenig zu sagen wusste. Wer aber ein wenig die Opern von Puccini kennt, der weiß sofort, dass mit dem ersten Werk von Tönnies bereits schon viel von Puccini verstanden werden kann: „So nun wird in unserer Sprache, was aus dem kalten Verstande, dem „Kopfe“ hervorgeht, von den warmen Impulsen des „Herzens“ unterschieden“ (Tönnies, >Gemeinschaft und Gesellschaft<, 1988: 102). Wer ferner ein wenig die Theorien von Tönnies kennt, der weiß sofort, dass mit der ersten Oper von Puccini bereits schon viel von Tönnies begriffen werden kann: „Dorf und Stadt“ (Puccini, >Le Villi<, 2006). Also im ersten Fall findet sich der Satz unter „Wesenwille und Kürwille“, im zweiten Fall finden sich die Begriffe in der „opera ballo“. Damit sagen wir selbstverständlich nicht, dass der Puccini den Tönnies vertont bzw. der Tönnies dem Puccini das Libretto geschrieben hätte, jedoch ist es schon bemerkenswert, wie nahe sich zwei Männer auf ganz unterschiedlichen Gebieten kommen, ohne dass sie sich kannten.

Das Hauptwerk von Tönnies beginnt bekannter Weise mit den Hauptbegriffen „Gemeinschaft und Gesellschaft“. Zur „Gemeinschaft“ zählt u.a. die „Kirche“, zur „Gesellschaft“ u.a. die „Öffentliche Meinung, Kritik“ (Adorno, ohne dass er Tönnies erwähnt). Wie wichtig diese Phänomene für Puccini waren, werden wir noch sehen, allerdings scheint es für viele Personen so, als ob Tönnies überhaupt nicht von Musik sprechen würde.

Nun, Tönnies war zwar sein ganzes Leben mit »Gemeinschaft und Gesellschaft« verbunden, doch er schrieb bei weitem mehr als dieses eine Buch. Es ist ja nur zu bekannt, dass u.a. ein weiteres wichtiges Werk von Tönnies 1922 erschien: >Kritik der öffentlichen Meinung<. Wie bedeutend überhaupt Tönnies für die Soziologie war und ist, lässt sich darüber hinaus nachlesen (z.B. Zander, 2008). Doch schauen wir einfach in das Buch von 1922 (TG 14) und betrachten einmal, was denn dort unter den Stichworten ‚Musik’ bzw. ‚Musiker’ zu finden ist. Wenn dies geschehen ist, können wir unsere Arbeit beenden, wenn wir nichts finden oder unsere Arbeit beginnen, falls sich doch etwas zeigt.

Sicherlich wäre jetzt die Verblüffung groß, wenn wir frugal sagen, es gibt nichts zu berichten, doch dann würden wir es ja nur so machen, wie so einige in der „akademischen Soziologie“ demonstrierten. Es gibt demnach bemerkenswerte Äußerungen von Tönnies. Jetzt könnte aber immerhin noch angemerkt werden, ja aber Simmel, Weber sowie Adorno haben doch Aufsätze über Musik geschrieben und nicht nur einzelne Sätze vermerkt. Ja, ja, aber dazu haben wir schon etwas angemerkt und so präsentieren wir erst einmal die Sätze von Tönnies, damit deutlicher wird, dass aber vor allem er etwas Bedeutendes vermerkte, was leider lange Zeit verborgen war.

In dem Buch >Kritik der öffentlichen Meinung< (TG 14), das ohne Skrupel in Abhandlungen über die Soziologie insgesamt sowie über die in der Allgemeinen Theorie oft unerwähnt bleibt, gibt es insgesamt fünf interessante Hinweise. Diese lassen sich auch relativ schnell über das Ende eines Buches (TG 14) finden: „In diesem sog. ‚denkenden’ Sachregister …“ Führen wir sie ohne unsere und irgendwelche Kommentare erst einmal an (Unterstreichung: die Autoren):

„Die Fakultät der Rechtsgelehrten entwickelte ihre Dogmatik und ihre Kontroversen, gleich der theologischen. Die medizinische Fakultät hingegen, und vollends die jüngste, die Facultas Artium, hatten von vornherein einen lebhafteren Trieb zur Erforschung der Wahrheit wirklicher Tatsachen und Vorgänge.“  In der Anmerkung zum Kursiven heißt es dann: „Facultas Artium: [lat.] Fakultät der [Freien] Künste (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie) in der spätmittelalterlichen Universität; Vorläuferin der Philosophischen Fakultät“ (TG 14: 126).
„[…] so wenn er {=Napoleon Bonaparte} im Jahre 1812 das Journal de l’Empire und die Gazette de France anwies, ausführlich und unablässig den Streit über den Vorzug der französischen oder italienischen Musik zu behandeln“ (TG 14: 188).
„Wie naturgemäß mit den Ausdrucksmitteln immer die Führung der Öffentlichen Meinung zusammenhängt und weil neben Lehre, Rede, Schrift, Dichtung auch die übrige Kunst zu den Ausdrucksmitteln gehört, so werden auch die Künstler zuweilen, wenn nicht Führer so doch Begleiter der Öffentlichen Meinung; in erster Linie etwa als Bühnenkünstler als Dolmetsche der dramatischen Dichtung; aber auch der anerkannte, ja bewunderte Maler, Bildhauer, Architekt und der Musiker wirken auf den Geschmack, den Genuss und dadurch unmittelbar auf die Meinung, zunächst etwa nur von dem, was schön sei, aber das Schöne und das Gute berühren sich fortwährend, so dass nicht nur die ästhetische, sondern auch die ethische Öffentliche Meinung von ihnen beeinflusst und mitbestimmt wird, in weiterer Folge daher wohl auch die politische“ (TG 14: 252).
„Es ist bekannt, wie die Politik und Diplomatie Großbritanniens es versteht, das Instrument der Öffentlichen Meinung zu spielen und ihm jenen religiös-moralischen »Gesang« zu entlocken, der unter diesem Namen (cant) eine seltsame Berühmtheit erworben hat, um so merkwürdiger, da diese Töne dem »Lande ohne Musik« entstammen“ (TG 14: 292).
„Da ist der Heilige Geist […]“ In der Anmerkung zu dieser Passage wird auf den letzten Satz in der Autobiographie von Tönnies (1922) verwiesen: „Dass wir die Schranken des Christentums aller Bekenntnisse durchbrechen, von der Religion des Sohnes zur Religion des Geistes fortschreiten müssen, aber alles Edle, Schöne und Gute der christlichen Religion, vor allem ihre geistliche Musik, ja ihre gesamte Kunst, auch die Kunst der Seelenführung und ihre ethische Erfahrung, ehren und retten sollten, um unser Gemüt auch in ihrem Sinne zu erheben und zu erbauen, während wir eine wahrere und weitere Weltanschauung ausbilden – das ist eine Überzeugung, die sich mit zunehmenden Alter und Studium immer tiefer in meinem Herzen befestigt hat“ (TG 14: 666; R. Schmidt, >Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, 1922: 234).
Bemerken wir, dass diese Sätze in der Theorie von Tönnies wurzeln und erwähnen wir, dass Tönnies selbstverständlich im Punkte 4 nichts von den Beatles, Rolling Stones, Kinks usw. wissen konnte, aber Adorno hat da z.B. schon etwas von der „Beatlemania“ erfahren. Wie dem auch sei, die Musik ist weder tief noch oberflächlich an Tönnies vorbeigerauscht und deshalb konzentrieren wir uns jetzt auch wirklich auf das Thema.

Wir beginnen – in komprimierter Form – mit den Eckpunkten der Lebensgeschichten der beiden außergewöhnlichen Persönlichkeiten Giacomo Puccini und Ferdinand Tönnies.

Der Musiker Puccini wurde geboren als „lunga progenie di musici / Degni della viva tradizione patria / Qui nacque il 22 Dicembre 1858 / GIACOMO PUCCINI / Che alle nuove voici di vita / Accordò note argute di verità e leggiadria / Riaffermando con le schietta agili forme / / La nazionalità dell’arte / Nel suo primato di gloria nel mondo“.  [4] Giacomos Vater, Michele Puccini (1813-1864), starb, als der Sohn gerade einmal eineinhalb Jahre alt war; der Knabe wuchs – neben seinem einzigen Bruder Michele – zusammen mit Mutter Albina Magi und weiteren sechs Schwestern in einem reinen Frauenhaushalt auf. Auf Nietzsche sei hier nicht ohne Grund auch einmal verwiesen. Puccini erhielt sehr früh Unterricht von seinem Onkel Fortunato Magi, der am Institut Pacini eine Professur inne hatte und die Familie auch in finanzieller Hinsicht unter die Arme griff [5], da Albinas Witwenpension dürftig ausfiel und die Musikerausbildung zu finanzieren war. Albina Magi war sehr darauf bedacht, ihrem Sohn „die beste Schulbildung zu geben, die er in Lucca bekommen konnte“ [6] und somit gezwungen, Petitionsersuche bei der Verwandtschaft, der Stadt Lucca oder sogar bei der Königin Margherita für ein Stipendium erfolgreich durchzubringen.

„Die […] aus Holland stammenden Ahnen der Tönnies kamen durch Fleiß und günstige Heiraten zu beträchtlichem Vermögen, waren häufig Hofbesitzer und übten regelmäßig kommunale oder kirchliche Ehrenämter“ [7] aus. Ferdinand Tönnies’ Mutter, Ida Friederica Tönnies, geb. Mau, war die Tochter des Geistlichen Johann August Mau. Dessen Vater wiederum, Andreas Jacob Friedrich Mau, verstarb als Johann August gerade einmal zwei Jahre war. Ida Friedericas Mutter, Margarete Magdalene Mau, musste daher acht Kinder alleine aufziehen. Es ist schon beachtlich, welche Parallelen in den beiden verschieden Familien Tönnies und Puccini gezogen werden können, die einen wesentlichen Einfluss nehmen werden auf die Aus- und Fortbildung von Ferdinand und Giacomo. Tönnies’ Mutter war ebenfalls um eine fundierte Ausbildung ihrer Kinder bemüht, doch die Landwirtschaft sollte dabei nicht vernachlässigt werden, die den kleinen Philosophen gar nicht so kümmerte: „Der kleine Ferdinand wird doch im Juli sechs Jahre; er liest ganz fertig und hat es im Rechenbuch schon zum Dividieren gebracht. Einen merkwürdigen Eifer zeigt das Kind; er kümmert sich nicht um Lämmer und Kälber etc.“ [8] Zu dem Onkel väterlicherseits, Gert Cornils Tönnies, hatte Ferdinand eine enge Bindung. Denkanstöße – so CARSTENS – erhielt dieser jedoch auch durch den Mann der älteren Schwester seines Vaters, Ratmann Adolf Theodor Thomson. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass „mindestens zwei […] formende Strömungen […] auf die Person Ferdinand Tönnies ein[-wirkten]: das erdverbundene Element der Tönniesschen Linie und das durchgeistigte Element insbesondere des Johann August Mau, der sich in seinem geistlichen Beruf mit den grundlegenden Lebensfragen seiner Zeit beschäftigte und um die Einwirkungen auf die Umwelt in erzieherischer Weise stets bemüht war.“ [9] Dieser Einfluss prägte den jungen Tönnies sehr früh, der seine pädagogischen Fähigkeiten an seine Geschwister weiter vermittelte. Und so auch Puccini: Giacomos erste musikalischen Schritte zeigte sich als Chorknabe im Alter von zehn Jahren in San Martino und San Michele; mit vierzehn Jahren übte er mit Orgelspiel das Amt des Kirchenmusikers in der Nachbarschaft von Lucca aus, woher die Familie Puccini ursprünglich auch stammte. Ein gewisser Carlo Della Nina war mit sechzehn Jahren bereits Puccinis erster Schüler; in demselben Alter begann Giacomo Puccini bereits Orgelmusik zu komponieren. Giacomo Puccinis Lehrer waren zunächst sein Onkel Magi (mütterlicherseits), selbst ehemaliger Schüler von Michele Puccini und damaliger Direktor des Istituto Pacini, und anschließend Carlo Angeloni, Dozent in derselben Bildungseinrichtung. Für Puccini stand jedoch fest, dass er nicht in die Fußstapfen seiner Kirchenmusikväter steigen, sondern den Weg der Oper einschlagen wird: „[…] >>Als ich [=Puccini] in Pisa die Aida [von Giuseppe Verdi] gehört hatte, […] spürte ich, daß ein musikalisches Fenster für mich aufgegangen war.<< Möglicherweise wurde in jenem Augenblick die Idee in ihm geboren, aus der Familientradition auszubrechen und sich ausschließlich auf die Oper zu konzentrieren. Es war ein Jugendtraum, für dessen Erfüllung Puccini kaum die notwendige Ausbildung hatte; und Lucca war auch nicht der geeignete Ort für einen angehenden Opernkomponisten. Das Opernschreiben konnte man nur in Mailand lernen, dem neuen Mekka der italienischen Oper. […]“ [10]

Sowohl Tönnies als auch Puccini waren aufgrund ihrer Jugendzeit nachhaltig von der idyllischen Dorfgemeinschaft auf dem Land geprägt: „Wenn ich [=Tönnies] mich in die ganze damalige Umgebung zurückversetze, so gewinne ich das Bild eines stillen behaglichen, ja fast idyllischen Lebens“. [11] Bei SCHICKLING heißt es: „[…] Schon damals zeigte sich seine große Liebe zum Landleben und seine tiefe Abneigung, in der Stadt [zu] bleiben […]“.[12] Nachdem die beiden nun heranwachsenden Männer zeitversetzt ihre Gymnasialzeit mit dem Abitur abgeschlossen hatten (Ferdinand Tönnies an der Husumer Gelehrtenschule, Giacomo Puccini am Musikgymnasium ‚Istituto Pacini’), war deren neuer Lebensabschnitt bereits vorgezeichnet. Beide hatten die besten Grundvoraussetzungen für ihre bevorstehende Studienzeit: Tönnies beabsichtigte, mit einem Empfehlungsschreiben von Theodor Storm (an den Professor der Sprachwissenschaften und vergleichende Religionswissenschaften, Friedrich Max Müller) nach Straßburg zu gehen, um sich verstärkt der Klassischen Philologie mit dem Hauptgewicht auf die griechische Dichtung zu widmen. Giacomo Puccini konnte am Musikinstitut sein Kompositionstalent mehrfach unter Beweis stellen: das Preludio a Orchestra, ein Vexilla regis prodeunt für zweistimmigen Männerchor und Orgel, die Romanze A te für Singstimme und Klavier, die Cantata I figli dell’Italia bella (für ein Wettbewerb anlässlich einer Kunst-, Industrie- und Landwirtschaftsausstellung der Provinz Lucca, 1877; erfolglos), die Mottetto per San Paloino für Solobariton, vierstimmigen gemischten Chor und großes Orchester (UA 29. April 1877 im Istituto Pacini) auf einen lateinischen Text zu Ehren des lucchesischen Stadtpatrons San Paolino. Und schließlich – laut SCHICKLING – das umfangreichste und musikalisch bedeutendste Werk aus Puccinis Schulzeit: die Messa a 4 voci. [13] Für das beabsichtigte Musikstudium in Mailand stand für Giacomo Puccini zunächst aber die Aufnahmeprüfung bevor, die auch noch – erst bei bestandener Prüfung – finanziert werden musste. Während sich Ferdinand Tönnies also nach dem Examen „auf dem Gut Probsteierhagen bei seinem Onkel Adolf Jeß“ niederließ, um sich in der Kieler Universitätsbücherei auf dessen Studium vorzubereiten, setzte Puccinis Mutter ein Schreiben für die Königin Margherita auf, mit der Bitte um eine „monatliche Donation von hundert Lire“ (SCHICKLING 2007: 40). Von einem weiteren Onkel, Dr. Nicolao Cerù, wurde Giacomo ebenfalls unterstützt. Als man endlich Puccini die Aufnahme ins Mailänder Musikkonservatorium bestätigte (Giacomo erhielt die Bestnote), konnte auch nun für den Musiker das Studium am 16. Dezember 1880 in der Großstadt beginnen.

Die Universitätskarriere von Ferdinand Tönnies entwickelte sich progressiv: Obwohl Tönnies’ „deutsches Hochbewusstsein“ in Straßburg das Studium aufzunehmen beabsichtigte, verließ er Straßburg und studierte im Wintersemester 1872/73 in Jena und hatte dort Kontakte mit einer Burschenschaft (von nun an R. Schmidt, 1922: 202ff). Hier kam er dann auch in Kontakt mit Nietzsche, dessen erstes „Büchlein“ er im Schaufenster sah und in den Sommerferien 1873 lieh er sich »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« aus „und las es mit Genuss, ja beinahe mit dem Gefühl einer Offenbarung“ (203). Damit finden wir ganz unverhofft bereits vor Anfang der Karriere von Tönnies einen Bezug zur Musik, denn Nietzsche schrieb dieses Buch während seiner Freundschaft mit Wagner und dieser Wagner beeinflusste anfangs Puccini vor allem in seiner ersten Oper >Le Villi< nicht unwesentlich. Aber dies fassen wir gleich genauer.

Tönnies kam dann weiter in Kontakt mit den Lehren von Schopenhauer und Aristoteles, aber Nietzsche ließ ihn vorerst nicht mehr los und er sah weitere Werke von ihm: „Ich kaufte sie und war tief bewegt. Seitdem habe ich jedes Nietzsche-Werk gleich nach Erscheinen mir zu eigen gemacht, wenn auch mit allmählich abnehmender Begeisterung“ (204f). Tönnies ist zu dieser Zeit Rekrut, beschäftigt sich ebenfalls mit Kant und bricht, weil er wohl Kaserne, Kneipe und Kultur nicht so leicht vereinen kann, zusammen: „Anfallsweise auftretende heftige Schmerzen des Hinterkopfes verfolgen mich seitdem“ (205). 1875 erscheint seine erste Schrift, „eine ziemlich gehaltlose Verteidigung der Burschenschaft“ (205). Ja, und schon haben wir ein interessantes Datum, 1875 macht sich bei Puccini die Wirkung von Verdi und bei Tönnies die Wirkung von Schopenhauer bemerkbar. Puccini eilt nun in seine Opernkarriere und Tönnies in die Soziologie. Übrigens finden sich auch die ersten Kompositionen von Puccini 1874/75.

1875/76 begibt sich Tönnies nach Berlin und lernt Friedrich Paulsen kennen, was „sich zu dauernder Freundschaft“ entwickelte. Über Paulsen trifft er auf „die sozialen Fragen, die eben damals in Deutschland die Jugend zu erregen begannen“ (206). Philosophie und Staatswissenschaften werden die Hauptinteressen von Tönnies: „Mein wissenschaftlicher Sinn hatte sich vom Altertum auf das gegenwärtige Zeitalter hingewandt“ (207). Über Paulsen wird nun Tönnies auf die Bedeutung von Hobbes gestoßen und in der Folgezeit wird Tönnies einer der bedeutendsten Forscher dieses Gelehrten. 1878 studiert dann Tönnies auch noch Marx und später (1921) wird er auch noch über dessen „Leben und Lehre“ ein Buch veröffentlichen. Um diese Zeit beschäftigt sich Tönnies ferner u.a. mit Rousseau, Kant, Comte, Spencer usw. und bemerkt, dass „ausschließlich rationalistische Ausdrücke“ nicht immer wirklich weiterhelfen (211).

Was dann geschah sagt Tönnies so: „ Die Ausführung beschäftigte mich […] unablässig, ich [=Tönnies] darf sagen Tage und Nacht […]“; heraus kam, das Hauptwerk »Gemeinschaft und Gesellschaft« (212). Doch das „Alleinfliegen“ bedurfte noch vieler Kommunikationen, u.a. Platon, Spinoza, Descartes, Locke Leibnitz u.v.m. wurden gelesen und analysiert. Zwischenzeitlich traf er gar auf Nietzsche und notiert: „Jetzt muss ich mich doch wundern, dass ich so an Nietzsche vorbeigegangen bin“ (214). Nachdem dies geschehen ist (1883), begab er  sich später (1887) auf Reisen und verkündet: „Florenz und Siena haben sich (außer Rom) meiner Seele am tiefsten eingeprägt“ (215). Da war Tönnies fast bei Puccini und geht auch an dieser Person vorbei.

Tönnies schreibt und schreibt nach seinem Erstwerk mehr und mehr, es ist bekannt, dass er aber weder berühmt noch reich wurde und sagte: „Im Jahre 1912 erschien endlich die zweite abgeänderte Auflage von »Gemeinschaft und Gesellschaft« nunmehr mit dem Untertitel >Grundbegriffe der reinen Soziologie<“ (226). Von da an, so wurde es formuliert, kann bedenkenlos von der Soziologie gesprochen werden (Zander, 2008).

Aber noch ein paar Bemerkungen aus der Zeit zwischen 1887 und 1912 seien hier verzeichnet. 1910 hält Tönnies die Eröffnungsrede zum Ersten Deutschen Soziologentag, 1908 war er Hausgast bei dem Ehepaar Weber und davor war er in Amerika: „Es folgte für das Jahr 1904 die Einladung zum Arts and Science Congress, der mit der Weltausstellung von St. Louis verbunden war“ (223ff). Hier las Tönnies über „Social Structure“ (223) und welchem Soziologen bzw. welcher Soziologin fällt beim Begriff „Sozialstruktur“ da der Name Talcott Parsons nicht ein? Jett sind wir in Amerika und diesen Kontinent eroberte Puccini nach 1904 (>Madama Butterfly<) im Sturm, aber der Vorzeige-Soziologe Parsons merkte es nicht und versuchte zu allem Überfluss auch noch Tönnies zu umgehen.

Der Weg zu einem erfolgreichen Opernkomponisten war allerdings für Giacomo Puccini äußerst steinig: Am Konservatorium ging der junge Student in die Kompositionslehre von den Professoren Antonio Bazzini und Amilcare Ponchielli: „Als Komponist gehörte Bazzini […] zu jener kleinen Gruppe von Zeitgenossen Verdis, die mit der deutschen Musik, der klassischen und der romantischen, gut vertraut und auch durch sie beeinflußt waren. […] Seine einzige Oper, Turandia […] wurde 1867 an der Scala mit wenig Erfolg aufgeführt; sie ist eine Vorläuferin von Puccinis letzter Oper Turandot. […] Als Lehrer legte Bazzini großen Wert auf sauberes Handwerk und technische Perfektion […]. […] Im Gegensatz zu Bazzini war er [Ponchielli] in erster Linie Opernkomponist […].“ [14]  Von den Opern, die Ponchielli geschrieben hatte, konnte sich lediglich La Gioconda (1876) auf der Bühne erfolgreich durchsetzen. Letzterer hatte zu seinem Schützling ein väterliches Verhältnis: dies wird sich später zeigen, wenn Ponchielli Puccini nach dessen Abschluss der Studienzeit dabei hilft, im Rahmen seiner ersten Opernkomposition einen Librettisten zu finden. In der Zwischenzeit musste der junge Student zunächst den Anforderungen des Konservatoriums gerecht werden: der Lehrplan für Komposition beinhaltet u.a. Ästhetik, Dramaturgie und Literatur – essentielle Inhalte, die später für den angehenden Opernkomponisten als fundamentaler Leitfaden dienen werden. Anfangs zeigte Puccini jedoch nur mäßiges Interesse für Fächer wie Kontrapunkt, Theorie und Klavierspiel (Puccini war ein mäßiger Pianist). Dieses Desinteresse ging an Ponchielli nicht ohne Konsequenz vorbei. Puccinis Mentor wies daher Giacomos Mutter in einem Brief (vom 8. Januar 1883) darauf hin: „Ihr Sohn Giacomo ist einer der besten Schüler meiner Klasse, und ich bin mit ihm zufrieden. Sehr zufrieden, würde ich sagen, wenn er noch ein wenig eifriger an der Arbeit wäre, denn er kann sehr gut sein, wenn er will. Es ist notwendig, daß Ihr Giacomo sich, über die Schularbeiten hinaus, ernsthaft mit seiner Kunst [!] beschäftigt, von sich aus unermüdlich arbeitet, Autoren liest und schreibt… Schreiben, Musik niederschreiben! Wie auch immer, da er das Diplom haben will, raten Sie ihrem Sohn, auch die anderen Kurse nicht zu vernachlässigen, dann wird er ein gutes Gesamtergebnis erzielen […]“ . [15] Die professorale Monierung hat bei dem jungen Studenten reife Früchte getragen: neben zahlreichen eigen initiierte Opernbesuchen, aus denen der angehende Komponist wertvolle Anregungen für kompositorische Studien am Konservatorium (und auch für spätere Opernkompositionen) mitnehmen konnte, entstanden bis zum Abschlussexamen einige beachtliche Kompositionswerke (cf. SCHICKLING, Giacomo Puccini. Catalogue of the Works. 2003, S. 77-132).

Entstehungszeit Katalogisierung nach SCHICKLING
1874-1878 (?) 9-29: Studienkomposition für Klavier und Orgel
Ende 1881 und Juni 1882 (?) 30: Fuga für Orgel [moderato, d-moll]
Zwischen 1881 und Juni/Juli 1882 31: Adagio für Streichquartett [A-Dur]
Juni/Juli 1882 32: Preludio Sinfonico für Sinfonisches Orchester [A-Dur]
Juli 1882 (?) 33: Ah! Se potesse für Tenor und Klavier
Dezember 1882 34: Scherzo für Streichquartett [Allegro vivo, a-moll]
Ende 1882 und später 35: [Unidentified stage work] (zit. Nach SCHICKLING); Bühnenkomposition für Tenor, Bass; Chor I/II (Tenor, Bass) mit dem Text Seguitiam del reo l’impronte noi Pel piano, noi  pel monte
Erste Hälfte 1883 36: Fuga reale für Streichquartett [Andante sostenuto, A-Dur]
5. April 1883 37: Fuga reale für Streichquartett [Andante poco mosso, c-moll]
Frühling 1883 (?) 38: Melanconia für Bariton (?) oder Streichorchester (?)
Frühling 1883 (?) 39: Salve Regina für Sopran (?) und Klavier oder Harmonium
Frühling 1883 (?) 40: Storiella d’amore (melodia) für eine Stimme und Klavier
Frühling 1883 (?) 41: Ad una morta! für Mezzosopran oder Bariton und Klavier
Zwischen 1881 und 1883 42: Fuga für vier Stimmen [Largo, c-moll]
43: Fuga für vier Stimmen [Allegro moderato, G-Dur]
44: Fuga für vier Stimmen [Moderato sostenuto, C-Dur]
45: Fuga für vier Stimmen [Largo, e-moll]
46: Fuga für vier Stimmen [G-Dur]
47: Fuga für vier Stimmen [C-Dur]
48: Fuga für vier Stimmen [Adante mosso, G-Dur]
49: Fuga (?)
50: Quartetto in Re [D-Dur] für Streichquartett
51: Adagetto für Orchester
52: Trio in Fa [F-Dur] für Orchester
Frühsommer 1883 53: Fuga für vier Stimmen [Piuttosto lento, g-moll]
10. Juni 1883 und/oder einige Tage später 54: Mentìa l’avviso für Tenor und Klavier
Juni/Juli 1883 55: Capriccio sinfonico für Orchester; Examensarbeit
1883 (?) 56: Scherzo per archi ursprünglich für Streichquartett, notiert für Klavier vierhändig

In jener Zeit knüpfte Puccini auch freundschaftliche Kontakte zu namhaften Opernkomponisten, u.a. mit Alfredo Catalani; diese Freundschaft sollte jedoch ein jähes Ende finden, wenn Puccinis künftiger Verleger, Giulio Ricordi, den jungen Absolventen unter seine Fittiche nehmen und dessen Opern zum Nachteil Catalanis vorziehen wird. Dies betrifft die Oper >Tosca<.

Wie man der Übersicht von Puccinis Kompositionsarbeiten während seiner Studienzeit bereits entnehmen kann, befindet sich darunter lediglich eine partiell angefertigte Komposition für die Bühne (siehe Katalog-Nummer 35 in der rechten Tabelle). Bis zum Abschlussexamen, das Puccini am 6. Juli 1883 mit dem herrlichen Orchesterstück Capriccio sinfonico mit Bestnote erhalten sollte, übte sich der zukünftige Opernkomponist also nicht gerade progressiv und gezielt im Schreiben von Werken für die Bühne; kurz gesagt: Giacomo Puccini hatte keinerlei Erfahrung im Verfassen von Opernkompositionen sowie Kenntnisse von Dramaturgie, obwohl er den damaligen theatralisch-musikalischen Zeitgeist der Opernkomponisten theoretisch sehr gut studieren konnte, wie den Opernbesuchen, die Puccini während des Studiums gemacht hatte, auszugsweise zu entnehmen ist. (cf. SCHICKLING, Giacomo Puccini. Catalogue of the Works. 2003, S. 77-132):

Zeit Ort Opernbesuch
bis Herbst 1880nach dem 11. März 1876 LuccaTeatro PanterTeatro Nuovo, Pisa Diverse Aufführungen im Teatro del Giglio und anderen Theatern;Giuseppe Saverio Mercadante: La vestale Giuseppe Verdi: Aida
ab Oktober 1880 Mailand Teatro dal VermeTeatro CarcanoTeatro Dal Verme Nov./Dez.: Giacomo Meyerbeer: L’Etoile du nordDaniel François Esprit:Frau DiavoloGeorges Bizet: Carmen
1881-1883Nach 27. Februar 188123. Februar 1882Nach 17. März 188323. März 1883 MailandScalaMailand, Bologna oder TurinScalaScala Vermutlich diverse Aufführungen in Mailänder TheaternCarl Maria von Weber: Der Freischütz (ital. Erstaufführung)Evtl. Wagner-AufführungenJules Massenet: Hérodiade (ital. Erstaufführung)Alfredo Catalani: Dejanice (UA)

Charles Gounod: La Rédemption [Oratorium]

Die Gelegenheit, erstmals eine vollständige Oper komponieren zu dürfen, ergab sich kurz, nachdem Giacomo Puccini das Examen in der Tasche hatte. In der Zeitschrift ‚Il Teatro Illustrato’ hatte das italienische Verlagshaus Sonzogno nämlich ein Kompositionswettbewerb für eine einaktige Oper für ganz Italien ausgeschrieben. Mit dieser Ausschreibung verfolgte der Verlag bestimmte Ziele: erstens unterstütze der Wettbewerb den Einzug des musikalischen Verismus auf die Opernbühne (bedingt durch den Einfluss des literarischen Realismus); nennenswerte Vertreter sind die Komponisten Leoncavallo und Mascagni. Zweitens: mittels der Ausschreibung begab sich der Verlag gleichzeitig auf die Suche nach talentierten Opernkomponisten, die er aus rein kommerziellen Gründen an sich binden wollte. Der eigentliche Zweck dieser Ausschreibung bestand – drittens – jedoch darin, zwar die Traditionen der italienischen Oper in einem gewissen Rahmen fortzusetzen, gleichzeitig aber, dem aktuellen internationalen Zeitgeist der Opernbewegung zu folgen; diese Prämissen sollten sich in der Wahl des Sujets und Anlage des Librettos (Versifizierung der Vorlage und deren Dramaturgie) widerspiegeln. Und zuletzt sollten Operntext und Musik stimmig sein. So lauteten also die Vorgaben der Ausschreibung. Diese eben genannten Forderungen hatten natürlich einen musik- und soziohistorischen Hintergrund, auf die kurz mittels einer Darstellung der damaligen (musik)gesellschaftlichen Tendenzen einzugehen ist.

Beginnen wir logischerweise mit Puccinis beiden Kompositionsprofessoren: Da Antonio Bazzini (1818-1897), der vornehmlich von der Spätklassik und Romantik beeinflusst worden war, seinen persönlichen Schwerpunkt auf die Instrumentalmusik setzte [16], sei der Blick daher auf Amilcare Ponchielli (1834-1886) zu lenken, weil sich dieser hauptsächlich als Opernkomponist [17] betätigte, und demnach auch einen unmittelbaren musikalischen Einfluss auf Puccini ausgeübt haben musste. Von Ponchiellis insgesamt zehn Opern hatte sich nur das lyrische Drama La Gioconda durchsetzen können; dies hängt mit dem neuen Kurs einer Opernära zusammen, der sich auch der einst konservativ eingestellte Komponist letzten Endes beugen musste: Während die ersten Opern im ‚akademischen’ Stil mit konventionellen geschlossenen Formen gehalten sind, lösen sich die späteren in musikalischer und dramaturgischer Hinsicht fortschrittlich von der strikten italienischen Operntradition, die sich stilistisch nun – nach dem Geschmackssinn des Publikums – an der französischen Grand Opéra orientierten (cf. Ponchiellis fünfte Oper I lituani).[18] Hier zeichnete sich bereits der Übergang zum so genannten musikalischen Verismo ab; dieser Übergang kann als oppositionelle Bewegung (im direkten Kontext) zum Realismus bzw. (im weitesten Kontext) Naturalismus gesehen werden: „Das wesentliche Element dieser Opposition ist, was freilich in solcher Allgemeinheit formuliert für den Realismus generell gilt, eine gegen die Tradition verstoßene Verbindung von Form und Inhalt“. [19] Der Stilbruch zeigte sich konkret in der Anlage und im Inhalt der Oper. Ein- oder zweiaktige Opern, die bis dahin ausschließlich mit Komödie konnotiert und eher selten auf der Bühne aufgeführt wurden, erleben wieder ihre Blütezeit, und zwar nun mit einem theatralischen Aspekt: nämlich der Tragödie. Die Humoreske tritt in den Hintergrund [20] , dafür werden human-gesellschaftliche Symptome vor Augen geführt. Die lebensnahen Darstellungen auf der Theaterbühne (vornehmlich in Erscheinung von groß angelegten Ensembleszenen) erfolgen nicht nur auf visuelle Weise, sondern werden akustisch mit einer gezielt gut ausgearbeiteten Instrumentation und dem Einsatz eines explizit gewählten Registers akzentuiert. Die Durchbrechung der ‚Stilhöhenregel’ kulminiert schließlich in Ponchiellis erfolgreichsten Oper La Gioconda.

Wenn wir uns später mit Giacomo Puccinis erster Oper Le Villi im Rahmen dieses Diskurses eingehend beschäftigen werden, so versteht man auf einmal die väterliche Sorge Ponchiellis um seinen Schützling Puccini: der Kompositionsprofessor hatte die krisenhafte Situation der traditionell geprägten italienischen Oper am eigenen Leibe miterlebt, er durchschritt mit seinen Opernkompositionen jede einzelne Phase von Umwälzungen. Auch der Versuch, mit seiner letzten Oper Marion Delorme, neue Wege beschreiten zu wollen, scheiterte, nachdem sich der Geschmack des Publikums an der französischen Grand Opéra auch schon verflüchtigt hatte: Simplifizierung lautete jetzt die Forderung. Ein wenig sei aber noch die Spur des zukünftigen Opernkomponisten Giacomo Puccini prospektiv weiter zu verfolgen: Puccini wird nämlich ab seiner zweiten Oper (Edgar) genau mit denselben Problemen, mit denen sich sein ‚Lehrmeister’ einst auseinanderzusetzen hatte, konfrontiert: in allererster Linie die Einsicht, dass eine Kooperation und die daraus entstehende Arbeitsteilung zwischen Komponist und Librettist essentiell sein werden – nicht umsonst führte Puccini bei der Genese eines neuen Opernwerkes nicht allzu selten mit diversen Librettisten Diskussionen und sogar exzessiven Streit über die Gestaltung des Operntextes (dies führte soweit, dass sogar der Verleger [Giulio Ricordi] schlichtend einschreiten musste); die detaillierte Ausarbeitung psychologischer Feinheiten der einzelnen Figurencharaktere (für die spätere Gestaltung der typisch puccinischen Kantilenen in den jeweiligen Gesangsstimme). Die beiden eben genannten theoretischen Hauptaspekte werden unverzichtbar sein für die darauf folgende praktische musikalische Umsetzung, sprich Vertonung (bei den Erstlingsopern Le Villi und Edgar lagen Puccini bereits fertige Libretto vor, die er ‚nur noch’ zu vertonen hatte; später wird der Komponist seine Stoffe selbst aussuchen, sie ‚bearbeiten’ und erst dann vertonen, wenn das Konzept für ‚seine Ohren’ stimmig waren). Giacomo Puccini forderte nämlich mit jedem Fortschritt einer weiteren Oper eine nahezu übertriebene Perfektion seiner bereits konkret gedachten (!) musikalischen Idee, die er entweder nach dem Studium oder aus einem visuellen Eindruck (Besuch einer Theateraufführung) eines potentiellen Sujets heraushören konnte. Puccinis akustischem und visuellem Eindruck folgte sogleich eine konkrete Vorstellung, oder sagen wir besser ‚Vision’ bühnenwirksamer Theatereffekte (speziell bei Madama Butterfly sowie La fanciulla del West), die die Handlung nicht nur inhaltlich, sondern vor allem in ihrer Emotionalität authentisch wirken ließen. Die Legitimität dieser für Puccini unbedingten Forderungen wurzelt einerseits in einer Identifizierung einer individuellen Lebensanschauung, andererseits in einer beabsichtigten Bloßlegung und letzten Endes einem Geständnis menschlicher Schwächen. Es scheint so, als ob Puccini die eigentliche personale Krise (!) seines Kompositionsprofessors bereits erahnte, die Ponchielli hinter seiner Bemühung um ein krampfhaftes Festhalten an alten Konventionen bzw. Traditionen versteckte, jedoch innerlich sich nicht öffnen konnte für eine neue, jüngere Generation, die sich bereits im Kurs des Verismus (mit Puccini als unmittelbaren repräsentativen Vertreter) anbahnte. Wir ziehen also die Schlussfolgerung: durch Ponchiellis ‚väterliche’ Bemühung um den jüngeren Puccini haben wir genau den historisch musiksoziologischen Präzedenzfall, dass die ältere Generation sich in der Verpflichtung sehen müssen, die nachfolgende jüngere Generation in ihren Bestrebungen zu unterstützen, indem sie sie sowohl auf ihre guten als auch schlechten Lebenserfahrungen aufmerksam machen, um die moderne Zeit des Wandels, die – wie bereits kurz demonstriert wurde – unaufhaltsamen Veränderungen unterworfen ist, bewältigen zu können.

Es wurde oben bereits erwähnt, dass sich Ponchiellis Oper La Gioconda als einzige auf der Bühne bewähren konnte. Deren Operntext stammte von keinem geringen als Arrigo Boito, der den Text für Verdis Otello lieferte. Boito wird uns später noch einmal begegnen, wenn näher auf den Erfolgskurs von Puccinis erster Oper Le Villi eingegangen werden wird. [21] Soweit sei bzgl. Boito schon einmal erwähnt: auch er war in seinen Operntexten (durch die Wiederaufnahme vergangener Literaten) und konsequenterweise in der Musik um die Fortsetzung des romantischen Idealismus sehr bemüht, jedoch erfolglos. Für ihn bedeutete nämlich die Musik in der Oper „die aus Geschichte, Legende, Menschenseele und den Geheimnissen der Natur destillierte Essenz“ (CARNER 1996: 85). Boitos Auffassung entsprach überhaupt nicht dem modernen Kurs des Verismo, der neben Puccini auch mit den Komponisten Pietro Mascagni (1863-1945) und Ruggero Leoncavallo (1858-1919) eingeläutet wurde. Über diese beiden lässt sich auch sprechen. Eine wichtige Figur jedoch, die ohne Zweifel mit der Tradition der italienischen Oper unmittelbar in Verbindung gebracht wird, ist Giuseppe Verdi.

Verdi wuchs in einem nationalbewussten Italien auf, in dem Patriotismus und Heldentum als Ideale angesehen wurde, die sich ebenfalls in Verdis Opernstoffen widerspiegeln. Er war die Figur, die die italienische Musik als zentrale Gattung im Opernmilieu repräsentierte. Dabei bestand die primäre Philosophie der italienischen Oper darin, zu gefallen und zu rühren.

CARNER beschreibt die Situation folgendermaßen: „Wie jede Zeitspanne, in der traditionelle Überzeugungen zusammenbrechen und neue sich am Horizont gerade erst abzuzeichnen beginnen, war auch das Fin de Sièle eine geistige unruhige, sich selbst in Frage stellende, innerlich gespaltene und von Widersprüchen über die Bedeutung von Kunst und Leben gekennzeichnete Periode. Nietzsche, ihr scharfsichtigster Interpret, beschrieb sie als Zeit der >>Umwertung aller Werte<<. Was zu dieser Umwertung entscheidend beigetragen hatte, war das Auftauchen einschneidender wissenschaftlicher Thesen, wie sie etwa von Marx, Darwin und Freud geäußert wurde. Dieser neue Geist untergrub die Ordnung der Dinge, die bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts für solide und unerschütterlich galt. Die meisten Künstler und Schriftsteller, die in der Zeit von 1880 bis 1910 aktiv waren, reagierten darauf mit Enttäuschung, Frustration und Verzweiflung. Die moralischen, sozialen und ästhetischen Normen, die ihnen die vorausgegangene Generation vererbt hatte, waren ins Wanken geraten. Als Reaktion auf die geistige Malaise ihrer Zeit machte sich in den Werken Puccini, Mahlers und Debussys Pessimismus breit. […]“ [22] Wenn also oben einleitend kritisiert wurde, dass es den Wissenschaften Musik und Soziologie im Dialog an einer interaktiven Kommunikation fehlt und beide Wissenschaften typisch gesellschaftliche Krankheitssymptome vorsätzlich übersehen bzw. überhören, so befinden wir uns in Begleitung mit Puccini mitten im Thema. Die Umwertung aller Werte äußerte sich konkret darin, dass die menschliche Psyche zwar untersucht werden wollte, aber die Heilung der Psychose nur in der Invertierung der erlittenen Seele in die Musik als symbolische Geste erfolgte (=Umwertung der Werte). Damit wurde der Ursache einer Psychose jedoch nicht auf den Grund gegangen, sondern lediglich sublimiert. Das heißt: für einen Musiker wie Giacomo Puccini gab es nur diesen einen musikalischem Weg, autopersonale Konflikte, Versagensängste, äußere Zwänge und gesellschaftliche Kämpfe dadurch lösen – oder besser gesagt unterdrücken zu können, indem diese vornehmlich auf seine 12 Opernwerke zu transportieren. CARNER bringt es genau auf den Punkt: „Sie [=die Opernkomponisten] alle sind >>gefangene<< Künstler in einem speziellen Sinn: sie sehen sich gezwungen, Werke zu schaffen, deren unveränderliches Motto stets ‚mea res agitur’ ist, wenn ihnen die zwanghafte Natur ihres Solipsismus auch nur undeutlich bewußt ist.“  [23] Neben Puccinis sublimierten psychosomatischen Erkrankungen herrschte auch Druck vornehmlich von künstlerischer Seite. Giacomo Puccini stand nämlich vor einem großen Problem: als Opernkomponist war er eine (noch) unbekannte Größe. Glücklicherweise erhielt Puccini erneut ‚väterlichen’ Beistand von dessen Lehrer Ponchielli, der sich auf der Suche nach einem Librettisten begab, um einen geeigneten Handlungsstoff für die Vertonung einer Oper zu finden: „Am 1. April [1883] […] erschien in der Zeitschrift ‚Il Teatro Illustrato’ die Ankündigung eines Wettbewerbs für die beste einaktige Oper. Bis zu jener Zeit waren Opern von so kurzer Dauer vergleichsweise selten; dass der Wettbewerb ausdrücklich für Einakter ausgeschrieben war, zeigt den wachsenden Einfluß realistischer Erzählungen und Stücke auf die Opernbühne. Diese Welle erreichte ihren Höhepunkt in den folgenden Jahrzehnten mit den veristischen Opern von Mascagnis und Leoncavallo und den beiden einaktigen Opern von Richard Strauss; ein letztes Echo davon erklang mehr als dreißig Jahre später in den drei Kurzopern von Puccinis Trittico.

Der Wettbewerb von 1883 war der erste in einer langen Reihe; er wurde von Edoardo Sonzogno ausgeschrieben, dem Sproß einer reichen Mailänder Industriellenfamilie. Sonzogno war selbst Schriftsteller, Inhaber der Tageszeitung ‚Il Secolo’ und des Teatro Lirico in Mailand und hatte kurz zuvor ein Musikverlagshaus gegründet. Er verband Geschäftssinn mit seiner ursprünglichen Begeisterung für Musik und dachte, durch diesen Wettbewerb für einaktige Opern, den Concorso Sonzogno, neue Talente zu entdecken und an sein Haus zu binden. […]

Von den zehn für den Wettbewerb erlassenen Bestimmungen verdient die letzte besondere Erwähnung:

»Artikel X: Die Musik muss von den besten Traditionen der italienischen Oper inspiriert sein, aber sie darf die zeitgenössischen Errungenschaften der in- und ausländischen Musik nicht ignorieren. Darüber hinaus wird die angemessene Wahl eines Librettos sowohl im Hinblick auf sein Sujet als auch auf seine Versifizierung zugunsten des Kandidaten sprechen, denn es ist wünschenswert, daß in einem für das Theater bestimmten Werk kein Missklang zwischen dem Wert Librettos und dem der Musik entstehen.« […]

Als am Beginn des Jahres 1884 das Ergebnis des Wettbewerbs bekannt gegeben wurde, hatte Puccinis Oper nicht einmal eine ehrenvolle Erwähnung erreicht. Es gibt gute Gründe zu vermuten, daß die Jury sich kaum darum bemühte, Puccinis Werk einer ernsten Prüfung zu unterziehen; seine Partitur war in solcher Hast geschrieben, daß sie, nach seinen eigenen Angaben, völlig unleserlich war.“ (CARNER 1996: 78-79)

Nun gut, die erste Oper von Puccini konnte man kaum sehen, sie ist heute nur noch zweiaktig zu hören und enthält doch mehr, als damals vermutet wurde.

Aber was gab es sonst noch so um 1884 im noch-nicht-soziologischen Raum? Zum Beispiel 1883: eine Rede von Durkheim >Address to the Lyceen of Sens<, die älteste Schrift von ihm; eine Abhandlung von Tönnies >Studie zur Entwicklungsgeschichte des Spinoza<; Nietzsche >Also sprach Zarathustra I / II<; Tod von Wagner; – 1884: Nietzsche >Also sprach Zarathustra III<; Simmel >Dantes Psychologie<; Spencer >The Man ‚versus’ the State<; Freud >Über Coca<; – 1885: Nietzsche >Also sprach Zarathustra IV<, Marx >Das Kapital II<; Freud >Nachträge zur Arbeit ‚Über Coca’<. Es ist schon merkwürdig: quasi mit den ersten Anfängen der Soziologie erscheint auch Puccini. Fast ist man geneigt zu sagen, die Entwicklung von Puccini und die der Soziologie verlaufen parallel, nur keiner hat es gemerkt.

Mit dem ersten Buch von Tönnies und mit der ersten Oper von Puccini reibt man|frau sich eventuell die Augen und fragt: ja haben denn damals die Komponisten und Philosophen ähnlich oder konvergent gedacht? Ohne Umschweife sagen wir: das Libretto von Puccini ist in der Tat mit der Theorie von Tönnies leicht zu verstehen und im Gegenzug dazu ist mit Puccini zu begreifen, warum Tönnies bei „Tag und Nacht“ über sein Theorem nachdachte. Wie dem auch sei, zunächst betrachten wir einmal scharfsinniger diese Oper von Puccini, bevor wir tiefsinniger mit Tönnies in diese Thematik zwischen „Dorf und Stadt“ eindringen. Wer jetzt meint, dass sich dies alles schnell erledigen lässt über Simmels „Jodeln“, Webers „Rationalität“ oder Adornos „Einführung“, der irrt sich gewaltig, ist möglicherweise unbelehrbar. Immerhin taucht im Dorf ein Sopran auf und über die Stadt wird ein Tenor verhängt. Dies hätte selbst Adorno hören können, womit wir gleichzeitig andeuten, dass der Wesenwille im Ton ganz anders zu vernehmen ist als der Kürwille. Jedoch so weit sind wir noch nicht mit unserer Analyse.

Stellen wir zunächst fest, dass Puccinis erste Oper nicht so ganz unabhängig von Wagner komponiert wurde, der wiederum um und nach 1872 so ganz unabhängig von Nietzsche auch nicht betrachtet wurde. War das erste eventuell dem Tönnies einerlei, so das zweite dem Puccini. Doch nun erst einmal zum Inhalt der Oper >Le Villi< und dann ein paar Anmerkungen zur Komposition.

Aber Halt! Im Internet wird auf „das schwächelnde Libretto“ von >Le Villi< hingewiesen. „Die Musik von >Le Villi< könnte mit Ausnahme von Turandot aus jeder Puccini-Oper sein, die Geschichte ist Kolportage: Ein bereits Verlobter bringt Erbschaft und Manneskraft mit schlechten Weibern durch, bricht damit seiner Verlobten das Herz und wird zur Strafe in ihr Zombiereich geholt […] Die Männer sind alle gleich, wird hier tapeziert, alle Frauen betrogen […] Acht Kitsch-Uhren schweben vom Schnürboden, von denen immerhin schon eine auf Sommerzeit vorgestellt ist, die Glocke schlägt Winterzeit. Nach dem Betrug verwandelt sich die Szene in den Friedhof eines Haushalts, aus dem Eiskasten quillt Asche und der sündige Robert verstirbt schrill aufgeputzt am Küchentisch“ (wienerzeitung.at).

Gut, geben wir zu, dass zunächst einmal die Opern von Puccini erfasst werden sollten und so ergibt sich:

1884 Les Willis (nicht gewonnener Opernwettbewerb) bzw. Le Villi
1889 Edgar (lange Zeit unterschätzt)
1893 Manon Lescaut (der finanzielle Durchbruch)
1896 La Bohème (die ersten Probleme mit anderen Komponisten)
1900 Tosca (die Strategien um Puccini)
1904 Madama Butterfly (mehrere Versionen)
1910 La Fanciulla del West (der Welterfolg)
1917 La Rondine (wegen einer Nähe zur Operette oft ignoriert)
1918 Il Trittico (die drei Einakter: Il Tabarro; Suor Angelica; Gianni Schicchi)
1926 Turandot (unvollendet)

Ja, und dann stellt man|frau erst einmal fest, warum die erste Oper mit allen anderen Opern aber nicht mit der letzten Oper vergleichbar ist, denn nur die letzte Oper ist unvollendet, alle anderen Opern sind vollendet. Nun gut, wenn die Einfachheit zur Kenntnis genommen wurde, lässt sich einfacher reden, indem auch darzustellen ist, worum es in der ersten Oper eigentlich geht, wobei >Le Villi< anfangs keine durchkomponierte Oper war, sondern mit Entlehnungen sowie Ungeschicktheiten zu sehen und zu hören war.

Ähnlich wie bei Wagner, der 1883 verstarb, wird die Mythologie bemüht, um menschliche Schwächen zu verdeutlichen. Während Wagner aber nicht selten das Schicksal großer Helden ins Auge fasst, konzentriert sich Puccini auf die kleine Liebe. Diese kleine Liebe, es war Puccinis eigentliche Botschaft, wird geschützt und alle die diese ignorieren, werden früher oder später bestraft. Die geschriebenen Biografien über Puccini lassen dann erkennen, dass die erste Oper nicht unwesentlich mit Puccinis eignem Leben verbunden ist. Er ist derjenige, der vom Dorf (Lucca / Siena) in die Stadt (Mainz / Mailand) gehen muss und letztlich erkennt, wie sich so das Dorf gegen ihn wendet. Ohne Zweifel ist eine scharfsinnige Erklärung: Es werden die zwei Seiten der Gemeinschaft gezeigt, zunächst „die Verhältnisse gegenseitiger Bejahung“, dann die verneinenden Kräfte, wobei diese durch den Kontakt eines Mannes mit den Möglichkeiten der Gesellschaft hervorgerufen werden (Tönnies, 1887). Hier lässt sich weiter sagen, dass sich dabei die Gemeinschaft um die Zentralität einer Frau dreht. Aber es sei ja den Interpretationen freie Wahl gelassen und wir akzeptieren, dass sich so manche Person ihre Dinge denken kann, will und muss bzw. wünscht.

Vom Originallibretto her sitzen der Vater, seine Tochter und dessen Verlobter mitten im Wald in einem Dorf am Tisch mit den Nachbarn, wobei es dabei um eine Verlobung geht. Und jetzt beginnt die Oper. Dieser Anfang lässt sich doch nicht mit einem virtuellen schwachen Sinn begreifen, sondern mit der Akzeptanz der damaligen Zeit: verliebt, verlobt, verheiratet. Der Anfang ist also eine Situation im Übergang oder eine Initiation. Sopran und Tenor lieben sich, der Bariton akzeptiert nun deren gewünschte Bindung und die Hochzeit oder die ‚unio mystica’ ist damit eingeleitet und gar möglich. Eigentlich gibt es alltäglich damit keine Probleme mehr zu lösen, aber dann verkündet der Chor etwas, was auf eine Zeitverzögerung aufmerksam macht: „ Die alte Frau aus Mainz [Stadt] / Machte Roberto [Dorf] zu ihrem Erben!“ (Libretto: >Le Villi<). Jetzt entfaltet sich die gesamte Dramatik, denn Roberto kommt eigentlich aus der Stadt und Anna (wegen ihres Vaters) ist aus dem Dorf. Roberto kennt aber die Reize der Stadt nicht, jedoch der Vater weiß um die Kräfte des Dorfes. Hier nun spielte Puccini mit Wagner, denn Puccini weist auf den Sumpf der Stadt und bei Verfehlungen auf das Sanktionspotential des Dorfes. D.h. bei Puccini gibt es in der ersten Oper eigentlich keinen Helden, sondern die erste Oper präsentiert nur Opfer. Der Vater wird nicht akzeptiert, Anna wird nicht geliebt, Roberto wird nicht reich und so sterben wegen der Unkenntnis alle Hauptpersonen. Der Vater verblutet aus Melancholie, Anna stirbt am einsamen Herzen und Roberto stirbt an Afterweisheit.

Die erste Oper von Puccini, die man|frau gar nicht mehr sehen, sondern nur hören kann, besteht aus zwei Akte und einem zweiteiligen Intermezzo. Im ersten Teil überwiegt, nun mit Tönnies gesprochen, die »Gemeinschaft« und im Vertrauen begibt sich Roberto in die Stadt. In den zwei Erzählteilen oder im Intermezzo wird, wiederum mit Tönnies verkürzt, auch auf »Gesellschaft« hingewiesen, aber im ersten Erzählteil wird die negative Kraft der Stadt und im zweiten die negative des Dorfes angesprochen. Zum ersten Negativen erscheint die Scham als Gegenpol, aber mit dem zweiten werden die ‚Geister’, Mythen oder „schwarzen Magien“ beschworen. Das erste führt Roberto zurück, das zweite entfaltet die Dramatik. Da Anna gestorben ist, kann sie nicht verzeihen und so entfaltet Puccini den ‚Trommeltanz’, d.h. die beschworenen Geister geben erst Ruhe, wenn sich die Betrogene, die sich im Übergang befindliche Jungfrau, mit ihrem Bräutigam rituell vereinen kann. So stirbt Anna nach dem ersten Akt und Roberto nach dem zweiten Akt, d.h. eine ‚unio mystica’ oder eine Hochzeit im Diesseits ist vernichtet.

Ja, Ja – Puccini schreibt hier keine Oper über Scheidungen, sondern über die Fehler und Unwissenheiten der Jugend, die noch nicht einmal, wie bemerkt, einen Preis gewinnt, aber trotzdem Puccinis Welterfolg nicht aufhalten kann. Tönnies stützt sein Konzept der »Gemeinschaft« auf eine ideale ‚Ehe’ und er wird vergessen gemacht. Dabei kann das eine ohne das andere nicht verstanden werden, deshalb erklären wir es einmal über die Willensformen von Tönnies, um darzustellen, wieso Puccinis Opern von der Realität aus leichter zu begreifen sind, aber das Ideale lieber nicht bei Tönnies befragt werden sollte, weil so Schwächen bei akademisierten Personen übertüncht werden können.

Puccini akzeptiert in seiner ersten Oper die Schwächen von Menschen, während Tönnies zunächst den menschlichen Zwecken vertraute. Der erste krankt daran, dass sich mit dem Zeigen der Vernichtung keine Verbesserung einstellt; der zweite krankt daran, dass eine ideelle Richtung überhaupt nicht verspricht, dass Probleme plötzlich verschwinden. Puccini hält mit seiner ersten Oper seiner Generation, warum auch immer, einen Spiegel vor. Tönnies zeigt seiner Generation, wohin sie sich bewegt, wenn nur noch der Verstand meint, sich melden zu müssen.

Aber lernen wir nun die erste Oper von Puccini ein wenig konsequenter zu betrachten, denn unabhängig von den schriftlichen Zeugnissen, die sich lesen lassen oder nicht, spricht ja eine Oper mehr als das Auge an, zumal doch immer wieder betont wird, dass dafür schon Ohren vorhanden sein sollten. Wir nähern uns also jetzt der Einsicht, dass eine Oper niemals beabsichtigte nur einen Sinn anzusprechen und schon gar nicht generell postulierte, dass alle Personen, die eine Oper besuchen, eingangs mit der Garderobe auch ihre Vernunft abgeben. Ob der Verstand der damaligen Opernbesucher bzw. Opernbesucherinnen ausreichte, um sich selbst von sich zu trennen, sei dahingestellt. Jedenfalls gingen die damaligen Personen nicht in >Le Villi<, um auch über ihre Fehler nachzudenken, sondern sie erhofften sich einen „organistischen“ Abend. So kam es, wie es kommen musste, die Oper >Le Villi< wurde irgendwie nicht gemocht, aber Feinsinnige spürten etwas. Wenn man|frau dann heutzutage auf kuriose Adaptationen trifft, so hat dies weniger mit Puccini, sondern eher etwas mit einem komischen Zeitgeist zu tun. Wie dem auch sei, diese Oper, so lässt sich leicht über Tönnies erfahren, trifft die Unterscheidung zwischen »Gemeinschaft und Gesellschaft« nicht schlecht.

Jahre vergehen und zwanzig Jahre später, gerechnet von der ersten Oper von Puccini, erscheint plötzlich >Madama Butterfly<. Die vorherigen Opern wurden mal mehr oder weniger beachtet, aber so richtig wurde noch nicht über Musik gesprochen, deshalb tun wir dies jetzt und halten einmal inne. >Le Villi< wie jede andere Oper von Puccini auch, wurde zunächst mit dem Klavier komponiert. Da taucht auch schon schnell eine Frage auf: wie hat er sich denn z.B. die Geige mit dem Klavier vorstellen können? Klären wir aber vorab, dass bei Tönnies (vgl. 1887) zum Wesenwillen die Frau, zum Kürwillen der Mann, zur Gemeinschaft das Dorfleben und zur Gesellschaft das großstädtische Leben gehört.

Die Oper >Le Villi< beginnt an einem Frühlingstag mit Blasinstrumenten. Die Musik strömt im Vorspiel die ersten wärmenden Sonnenstrahlen wieder und ist zur Gänze bejahend. Sie ist ruhig, harmonisch und Puccini durchstreift mit seiner Komposition das einfache Dorf. Zum Ende hin wird die Musik etwas lauter, denn sie verkündet ein Fest. Der einsetzende Chor singt das Loblied auf die Neuverlobten. Aber er verkündet jubelnd auch, dass Roberto das Dorf verlässt, um in einer Stadt ein Erbe anzutreten: „So wird Roberto heute Abend weggehen als armer Mann, wird aber zurückkehren als reicher, um dann seinen Liebling zu heiraten!“. Die Musik spielt fröhlich auf, denn überhaupt kein Problem wird zwischen dem Verlassen des Dorfes und der Rückkehr aus der Stadt erblickt. Puccini komponiert hier in der Vorfreude einen träumerischen Walzer, von dem sogar der alte Vater erfasst wird, weil die Fröhlichkeit der Musik ansteckend ist. Ruhig schweben die Tanzmelodien dahin und die Freude am Tanz wird besungen. Es herrscht Harmonie, das Bild einer Samtschaft schwebt in der Musik.

Anna erscheint und singt das Lied vom „Vergissmeinnicht“. Diese Arie deutet an, wie sehr sie Roberto liebt. Die weibliche Hauptstimme ist voller Zärtlichkeit, Fröhlichkeit, Verlangen, Hoffnung und Sehnsucht, aber auch Traurigkeit, denn Roberto wird ja erst einmal das Dorf verlassen. Die Arie ist bestimmt durch Gemüt oder Wesenwille. Mit einem leisen Walzer, der etwas lauter wird, als Roberto erscheint, denn er scheint voller Bewusstheit und verkörpert den Kürwillen. Die Musik deutet aber immer wieder die Zärtlichkeit zwischen Anna und Roberto an.

Jetzt beginnt Musik sanft und verdichtet sich im Liebesduett. Roberto singt optimistisch und bei Anna wird die Melodie leicht pessimistisch. Tenor und Sopran besingen die wahre Liebe. Die instrumentale Musik untermalt die Zärtlichkeit, während die Stimmen auf die „unio mystica“ weisen. In fröhlicher und unschuldiger Weise drängt dann der Chor auf den Abschied. Roberto erbittet demütig den Segen des Vaters, der ihn sanft erteilt. Der Bariton ist voll Verantwortung und Vertrauen.

Nach dem Segen erbittet das Dorf Gottes Hilfe. Die Gemeinschaft besingt in sanften Tönen ihren harmonischen Zusammenhang bzw. ihre Eintracht. Tenor, Sopran, Bariton und Chor sind in einer musikalischen Umarmung zu hören, die sich im Ziel einer Vision des gemeinsamen Wiedersehens steigert. Die Verabschiedung wird durch die Musik unterstrichen, die Freude und Zuversicht ausströmt.

Eine ruhige Musik begleitet dann im ersten Intermezzo den Erzähler, der von den dramatischen Ereignissen berichtet. Ein Frauenchor besingt leise den Trauerzug, die Musik streift noch einmal das Dorf, sie wird lauter und untermalt die aufwühlenden Ereignisse, wird ruhiger und beschreibt so Trauer und Verlust der geliebten Anna. Ohne musikalische Untermalung wird die Sage von den Wilis erzählt, die gebrochene Herzen rächen. Das zweite Intermezzo wirkt frostig und deutet auf das verhängnisvolle Ende. Plötzlich setzt die unheimliche Tanzmusik ein, die einen anderen Rhythmus zur Tanzmusik im ersten Akt aufweist. Sie wird lange gespielt und deutet schon an, wie sie bis zur Erschöpfung anhält. Mit diesem furiosen Klang halten die Wilis Einzug.

Der zweite Akt versetzt die Handlung in die Winternacht. Mit einem Trauermarsch wird darauf vorbereitet, dass der Patriarch die Wilis herbeiruft. Der Bariton verlangt Rache für den Tod seiner Tochter. Er beschwört die verneinenden Kräfte der Gemeinschaft. Die Autorität ist voller Verzweiflung, träumend von seiner Tochter begleitet die Musik diesen gebrochenen Mann.

Wirbelnd erscheinen die Wilis und richten sich auf die Bestrafung von Roberto ein. Hilflos erscheint Roberto wieder in seinem Dorf, das er so zuversichtlich verlassen hat. Er singt ängstlich, aber gleichzeitig auch kämpferisch, noch ist der Gesang ein Heldentenor, aber die instrumentale Musik wird düster. Roberto singt sein Reuebekenntnis, traurig und verzweifelt untermalt die Musik bereits schon den tragischen Helden. Der Gesang lässt noch hoffen, dass Roberto eventuell Anna wieder zu finden vermag, jedoch die Musik heult bereits das Schaudern. Die Arie endet damit, dass Roberto sich nicht der Türe zu Annas Haus nähern kann.

Säuselnd kommen die Wilis immer näher und Roberto spürt den Tod von Anna. Es folgt die Todesarie von Roberto. Intensiv dringt er in sein Innerstes und er erhebt schwere Vorwürfe gegen sich. Die Musik wechselt hinüber ins Mitleid. Sie umkreist die Ruhe vor dem Sturm. Die Musik wird schneller, der Geist von Anna ruft Roberto, Roberto vernimmt ihre Stimme, doch schon strahlt die Musik den Beginn der Rache aus. Liebreizend beginnt Anna mit ihrer Erinnerungsarie, die Musik umgarnt Roberto wieder wie bei seinem Abschied. Doch die Musik ist nicht mehr zärtlich, sondern fordernd. Roberto und Anna singen das Todesduett, das sich an das Liebesduett anlehnt.

Die Musik beginnt sanft, doch der Chor besingt, wie nun die Rache erfolgt. Die Musik steigert sich, der Walzer wird schneller und schneller. Mit dem letzten Ruf kurz vor der totalen Erschöpfung von Roberto ist er mit den anschließenden Worten von Anna im Tod vereint. Die Bestrafung der Gotteslästerung im ersten Akt: „Ach, zweifle an deinem Gott, aber nein, zweifle nie an meiner Liebe!“ ist erfolgt, die Oper endet mit dem Chor der Geister:“ Oh, Herr hilf!“

Die Schlussworte sind: „Hosianna! Hosianna! Hosianna!“  20 Jahre später lauten die Schlussworte bei Puccinis Hauptwerk (>Madama Butterfly<): „Butterfly! Butterfly! Butterfly!“ Diesmal jedoch nicht mit dem Ton der Bestrafung der Gemeinschaft, sondern mit dem kaum vernehmlichen Schuldbekenntnis des Individuums.

Die erste Oper von Puccini (1884) hat in etwa den Inhalt, wie problematisch der Gang von der Gemeinschaft (Dorf im Schwarzwald) zur Gesellschaft (Mainz) und wieder zurück werden kann. Das Hauptwerk von Puccini (1904) thematisiert: „Zwei Zeitalter […]: ein Zeitalter der Gesellschaft folgt einem Zeitalter der Gemeinschaft“ (Tönnies, 1887/1988: 215). Darauf gehen wir nun kurz ein, wobei sich schon denken lässt, dass nun auch die >Kritik der Öffentlichen Meinung< (TG 14) Berücksichtigung zu finden hat. Es ist also jenes Buch von Tönnies wichtig, das einige besondere Bemerkungen zur Musik beinhaltet (siehe oben).

Erwähnen wir zunächst, dass ohne die Theorie von Tönnies weder das Libretto noch die Musik der ersten Oper von Puccini leicht verständlich ist. Sodann kann man|frau sich noch einmal ganz langsam dem Werk von Puccini nähern, das wir in einer Übersicht noch einmal darstellen:

Um sich vom Beginn der ‚Musiksoziologie’ nicht überraschen zu lassen, empfiehlt es sich, nicht bereits bei Simmel oder Weber ein zu viel an ‚Musiksoziologie’ zu erwarten, sondern schlichter ist davon auszugehen, dass mit den Begriffen >Gemeinschaft und Gesellschaft< von Tönnies, der eine, Simmel, eher bei der Betrachtung der Musik auf die „Gemeinschaft“ achtete und der andere, Weber, seine Versenkung in die Musik mit der „Gesellschaft“ verknüpfte. Diese besondere Vorgehensweise verhilft dazu, einen späteren „Fehler“ von Adorno aus dem Jahre 1932 nicht zu wiederholen. Adorno ging in seinen Anfängen so weit, dass er bei der Musik den „Vorrang der ökonomischen Produktionssphäre“ versuchte zu untermauern. Mit dieser Annahme würde zwar Weber unterstützt, aber eine solche Annahme trifft weder die Musik noch wird sie der Soziologie gerecht. Und generell führt Adornos Verächtlichmachung von Puccini nicht weiter.

Nach >Le Villi<, wobei zu bedenken ist, dass Puccini stets bei späteren Opern Anleihen bei vorhergehenden Opern machte (z.B. sichtbar an den letzten Worten in >Le Villi<), erscheint die Oper >Edgar<, die wahrscheinlich am Wenigsten verstandene Oper von ihm. Hier wird deutlich dass Puccini sich nicht auf seine unmittelbare Umgebung beschränkt, sondern andere Kulturkreise aufmerksam studierte. Mit der folgenden Oper >Manon Lescaut< wird Puccini berühmt, wobei interessant ist, dass hier die Protagonistin nicht an gebrochenem Herzen oder durch den Dolch einer Rivalin stirbt, sondern sie verweht durch ihre Vergnügungssucht. D.h. Puccini widmet sich plötzlich in seiner dritten Oper auch Amerika. Puccinis Erfolg wird fortgesetzt mit der bekanntesten Oper >La Bohème<. Hier ist interessant, dass Puccini sich auf alltägliche Probleme seiner Zeit stützt, wobei die weibliche Hauptperson wegen einer unheilbaren Krankheit ihre Liebe verliert. Anschließend komponiert Puccini >Tosca< und diese Oper umschließt viele Opfer und ist gar visionär. Dann erscheint >Madama Butterfly<, eigentlich bis heute eine nie wirklich verstandene Oper (vgl. Tremmel).

Für Personen, die sich dieser Form der Kultur in Muse nähern, mag das wichtig sein oder nicht. Allerdings für eine Musiksoziologie, die sich nach gängigen Verfahren schon mal gerne auf Simmel, Weber und Adorno berufen möchte, sollten die Anmerkungen nicht überhört werden. Unabhängig davon, dass aus Affekten Gesang und aus Lärm instrumentale Musik entstanden sein könnte (Simmel) bzw. alle rationalisierte Musik die Oktaven benötigen oder die Klavierkultur nur die nördlichen Personen frönen könnte (Weber). Halten wir bei Adorno (1975: 89; 94) fest: „Die Aufgabe der der Musik als Kunst tritt damit in gewisse Analogie zu der der gesellschaftlichen Theorie“ … „Das passt dazu, dass überhaupt im Licht der jüngsten künstlerischen Entwicklungen die Frage nach der Verständlichkeit von Werken selbst neu sich stellt.“

Kommen wir zum Schluss wieder auf den „musikalischen Verismo“ zu sprechen, den neuerdings einige mit ‚Wirklichkeit’ übertragen und somit verkünden: „’Reality’ widerspricht dem Wesen der Oper: […] eine Butterfly kann nicht 15 sein […]. Die Phantasie und Vorstellungskraft des Zuschauers ergänzt, was in der Realität fehlt.“ Dies mag schon sein, aber oben haben wir nicht ohne Grund auf phantastische Zeitungsartikelchen verwiesen, womit deutlicher werden kann, dass auch „die Öffentliche Meinung“ (Tönnies, 1922; TG 14) bedacht sein sollte. Was dem „Reality“ Verdeutschen unter Umständen noch mit Phantasie und Vorstellungskraft bei >Le Villi< gelingt, wird aufgrund der „Öffentlichen Meinung“ bestimmt bei >Madama Butterfly< versagen.

Im Vorwort zur >Kritik der öffentlichen Meinung< wird bemerkt, dass Tönnies um „Buch, Zeitung, Flugblatt, Litfasssäule, […] öffentlicher Rede im Parlament und Theater“ wusste. „Er sieht jedoch dessen Dynamik voraus, die durch Kino, Radio, Fernsehen und Internet zur Explosion der Massenpublizistik wird“ (Tönnies, TG 14: XV). Nun, Puccini betonte immer, dass er für das Theater schreibt, womit kaum zu leugnen ist, dass Tönnies für eine Musiksoziologie und da besonders für Puccini nicht so uninteressant sein kann. Das eingangs erwähnte dritte Zitat von Tönnies führt uns in Dimensionen, die bisher überhaupt noch nicht gesehen werden wollten.

Mit Oper und Theater sind wir also doch mittendrin in der >Kritik der öffentlichen Meinung< von Tönnies und welcher Soziologe bzw. welche Soziologin weiß da nicht sofort, dass damit auch dessen Hauptwerk angesprochen wird. Z.B. das grandiose Werk >Madama Butterfly< konnte anfangs nur in der Oper gesehen und gehört werden, wobei Zeitungen positiv oder negativ darüber berichteten. Dann ließ diese Oper sich im Radio vernehmen, anschließend wurde mit Schallplatten dieses Werk vielen Menschen zugänglich gemacht. Im Fernsehen wurde diese Oper gespielt, mit der CD-Generation konnten gar hörerische Genüsse erreichbar sein. Durch die DVD-Entwicklung war es gar möglich, sich die schönste Aufführung anzueignen. Dann wurde >Madama Butterfly< als Spielfilm umgeschrieben und der wichtigste Hintergrund von Pierre Loti kam zum Vorschein (vgl. Tremmel). Als Spielfilm war diese Oper sogar berechtigt, im Kino aufgeführt zu werden. Im Internet lassen sich verschiedene Aufführungen anschauen und nun kommt eine weitere Entwicklung hinzu, nämlich das simultane Sehen einer Oper von sehr, sehr vielen Menschen, das sogenannte „Public Viewing“ macht es möglich. Am 7. April 2008 wird verkündet, dass in Deutschland zum ersten Mal über Satellit eine Live-Übertragung „aus der Metropolitan Opera in New York“ übertragen wurde und der Andrang war enorm. Diese Verbreitungsmöglichkeit wurde in Amerika, Kanada und Europa bereits schon genutzt, nun war es eben gar in Düsseldorf möglich.

Was wurde gezeigt? Genau: >La Bohème< von Puccini. Warum das? – Na, diese Oper ist nicht so einfach wie >Le Villi<, nicht so undurchdringbar wie >Edgar<, nicht so verzwickt wie >Manon Lescaut<, nicht so blutrünstig wie >Tosca< und auch nicht so tief wie >Madama Butterfly<, nicht so weltmännisch wie >La Fanciulla del West<, nicht so kriegsbehaftet wie >La Rondine<, nicht so subtil wie >Il Trittico< und auch nicht so unvollendet wie >Turandot<. Sie ist eben halt sehr bekannt wegen eines gesponnenen Künstlermilieus, das sich wohl an Phantasie und Vorstellungskraft der Zuschauer anzuschmiegen scheint. Beenden wir diesen kleinen Ausflug der Soziologie in die Musik und der Musik in die Soziologie mit der Bemerkung, dass mit Tönnies die Musiksoziologie wegen Puccini vor einem neuen Anfang steht oder umgekehrt.
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[1] Die Leser seien vorsorglich darüber zu unterrichten, dass der Versuch, über die multimediale Möglichkeit des World Wide Web eine angemessene Klärung des Begriffes ‚Musiksoziologie’ zu finden, scheitern wird. Zur angemessenen Information weisen wir darauf, dass Simmels Aufsatz über Musik (1882) fast 30 Jahre vor Webers (1912) An- und Einsichten erschienen sind: ca. 50 Jahre später (1962), taucht dann Adornos >Einleitung in die Musiksoziologie< auf, wobei überhaupt nicht zu leugnen ist, dass sich Adorno schon in seinen Anfängen (1932) um ‚Musiksoziologie’ kümmerte, aber da trifft man auf ‚Fehler’. Auf Simmels, Webers und Adornos Ansichten zur so genannten ‚Musiksoziologie’ gehen wir hier nur kurz ein.

[2] Norbert Zander (*1953), Dr. sc.pol.; Dipl.Soz.Wiss., ist freiberuflicher Soziologe. Sein Tätigkeitsfeld umfasst die reine, theoretische, praktische und angewandte Soziologie. Für philosophers today verfasste Dr. Zander  52  Rezensionen.  Aktuelle   Publikation:  Soziologie  –  Modern  Times  in  Limelight  (Münster: Monsenstein und Vannerdat Wissenschaft, 2008)

[3] CARNER apostrophiert den Aspekt des ‚Abstrakten’, den er in der Musik der Oper sieht, wie folgt: „[…] Musik ist paradoxerweise sowohl eine abstrakte als auch eine emotionelle [sic] Kunst, oder besser gesagt, ihre Wirkung auf den Hörer ist sowohl abstrakt als auch emotional. Wenn sie über Imitation physischer Realität nicht hinausgeht, hört sie auf, im eigentlichen Sinne Musik zu sein. Ihre Aufgabe in der Oper ist es, durch Klangsymbole eine Realität in der Vorstellung zu erzeugen. […]“ (CARNER 1996: 449)

[4] „Sproß einer langen Ahnenreihe von Musikern, die der lebendigen Erinnerung des Vaterlandes würdig sind, wurde hier am 22. Dezember 1858 Giacomo Puccini geboren, der geistvolle Klänge voll Wahrheit und Anmut mit den neuen Stimmen des Lebens in Einklang brachte und so durch seine lautere und gewandte musikalische Sprache den ersten Rang unserer nationalen Kunst in der Welt aufs neue bekräftigt hat. Die stolze Stadt am 30. Tag nach seinem Tod, dem 29. Dezember 1924“; Übersetzung: Mosco CARNER in: Puccini. Biographie. (1996)

[5] Giacomo Puccinis Onkel, Nicola Cerù, hatte der Familie ebenfalls seine finanzielle Unterstützung für Giacomos Ausbildungs- und Studienzeit zugesichert, die er aber – nach dem musikalischen Erfolgskurs von Puccinis Opern – zurückgefordert hat.

[6] CARNER, S. 47, loc.cit.

[7] CARSTENS (2005): S. 17, loc. cit.

[8] Zitiert nach CARSTENS (2005): S. 22, loc. cit.

[9] CARSTENS (2005): S. 20, loc. cit.

[10] Zitiert nach SCHICKLING (2007): S. 50, loc. cit.

[11] Zitiert nach CARSTENS (2005): S. 21, loc. cit.

[12] CARNER (1996). 117, loc. cit.

[13] Cf. SCHICKLING (2007): S. 38-39

[14] SCHICKLING (2007): S. 58

[15] CARNER (1996): S. 60

[16] Siehe MGG: „Bazzinis kompositorische Tätigkeit gliedert sich in zwei Phasen: Vor 1864 überwiegt in seinen Werken das konzertante Element; die Entwicklung reicht vom reinen Virtuosentum (La Ronde des lutins, Souvenir de Naples, Le Carillon d’Arras) über die Violinkonzerte (op. 14 und 15, in denen er Einfluß Mendelssohns spürbar ist) bis hin zum Charakterstück (Le Muletier, La calma, Elegia, aus op. 34 und 35). Nach 1864 konzentrierte sich Bazzini auf Gattungen wie Streichquartett und Sonate, schrieb eine Oper (Turandia, 1867 Mailand) und verschiedene Orchesterwerke. Die Sonatenform wird von mehreren Entwicklungen und ungewöhnlichen Wiederholungen bestimmt; in Francesca da Rimini, der ersten italienischen Symphonischen Dichtung, werden in der Motivik und in der Harmonik Einflüsse Liszts und Wagners spürbar. Motivische Arbeit bildet auch ein wesentliches Moment in der Messe Dies irae (1869), deren Thematik aus nur drei Noten entwickelt wird. […]“; S. 559, loc. cit.

[17] Ponchiellis Bühnenwerke umfassen zehn Opern: I promessi sposi (melodramma in 4 Teile, Libr.: Giuseppe Aglio/Cesare Stradivari nach Alessandro Mazoni); Bertrando dal Bormio (Oper in 4 Akten; wurde nicht aufgeführt), La savoiarda (Oper in 3 Akten; Libr.: Francesco Guidi); Roderigo re die Goti (Oper in 3 Akten; Libr.: Fr. Guidi); Il parlatore eterno (scherzo comico in 1 Akt; Libr.: Antonio Ghislanzoni); I lituani [dramma lirico in 3 Akten mit Prolog;  Libr.: A. Ghislanzoni]; I mori di Valenza (Oper in 4 Akten; Libr.: A. Ghislanzoni); La Gioconda (dramma lirico in 4 Akten; Libr.: Tobia Gorrio=Arrigo Boito); Il figliuol prodigo (Oper in 4 Akten; Libr.: Angelo Zanardini); Marion Delorme (Oper in 4 Akten;  Libr.: Enrico Golisciani)

[18] Als charakteristische Unterscheidungsmerkmale zwischen der italienischen und französischen Oper führt CARNER folgende Kriterien an: „Wenn es einen Unterschied zwischen der französischen und der italienischen Einstellung zum Sinnlichen und zum Emotionalen gibt, so ist es ein gradueller Unterschied. Vernunftbetont, kultiviert und mit Fragen des verfeinerten Geschmacks, le goût, beschäftigt, streben die Franzosen ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden ästhetischen Zielen an, neigen aber zuweilen dazu, größeren Nachdruck darauf zu legen, unsere Empfindsamkeit zu erregen, mehr als unsere Gefühle. Die Italiener hingegen, leidenschaftlich und naturverbunden, in ihrer Kunst also direkter und instinktiver, haben mehr zur andern Seite tendiert. Sie wollen eher unsere Gefühle wecken, als unsere Sinne erfreuen. Gleichbleibendes Thema der italienischen Opernkomponisten sind die miteinander streitenden einfachen Leidenschaften des Herzens […]“; zit. nach CARNER (1996), S. 441, loc. cit.

[19] In: Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Sachteil 9, Sp. 1401-1402, loc. cit. An dieser Stelle sei kurz auf eine definitorische Differenzierung der beiden Stiltendenzen ‚Realismus’ und ‚Verismus’ näher einzugehen. Wir stellen die These im Raum, dass der Begriff ‚Realismus’ ihre Berechtigung inhaltlich in der Darstellung des gesellschaftlichen Alltags findet, während der so genannte Verismus den Alltag der Menschen musikalisch, und somit auf emotionalem Niveau (!) erst authentisch darzustellen vermag. Realismus also im Sinne einer visuellen Abbildung des alltäglichen, wirklichen Lebens, und Verismus im Sinne einer akustischen Wiedergabe bzw. Wahrnehmung wahrer Gefühle, die der Alltag mit sich bringt. Somit stimmen wir nicht mit CARNERs Auffassung überein, der den Begriff Verismus mit ‚Naturalismus’ gleichsetzt: „[…] Aber in der Oper gibt zwei gänzlich verschiedene Dinge, auf den Grundlagen der Wahrheit zu schaffen und die Wahrheit so darzustellen, wie man sie im Leben vorfindet. Ersteres führt zur höchsten Form von Realismus: zur Wahrheit der Phantasie; letzteres zu ihrer gröbsten Form, zur ungeschminkten Wahrheit, zum Naturalismus, der sich für die Bühne überhaupt nicht eignet und am allerwenigsten für die Oper. […]“; CARNER (1996): S. 448, loc. cit.

[20] Mit Gianni Schicchi wird sich Giacomo Puccini wieder auf die ursprüngliche Funktion der einaktigen Oper berufen.

[21] Laut CARNER war es Arrigo Boito, der Puccini nach der erfolgreichen Premiere dessen Opern-Erstlingswerks Le Villi angeblich Giuseppe Verdi vorgestellt hatte.

[22] CARNER (1996): S. 473, loc. cit.

[23] CARNER (1996): S. 478, loc. cit.

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